Sportliches Training bei Multipler Sklerose?
Gleich vorweg: Training hilft - auch bei Multipler Sklerose. Schon seit einiger Zeit ist man von dem Glauben abgekommen, dass sich Bewegung negativ auf bereits geschädigte bzw. geschwächte Strukturen auswirkt. Das Wissen um den positiven Nutzen von sportlicher Bewegung hat den vorverurteilenden Glauben abgelöst. Somit weiß man mittlerweile, dass ein, entsprechend der Sport- und Trainingswissenschaft gestaltetes, auf den Patienten individuell abgestimmtes Training helfen kann, dem Menschen in seinen Alltagsaktivitäten zu unterstützen.
Multiple Sklerose nennt man die „Krankheit der 1000 Gesichter", und genauso vielfältig gestaltet sich auch das bewegungsorientierte Training bei Multipler Sklerose. Diese unterschiedlichen, bei MS vorhandenen, Voraussetzungen erfordern eine exakte Abstimmung des trainingstherapeutischen Programms auf die jeweilige Person. Folgende Aspekte sind bei der Auswahl zu berücksichtigen:
- Allgemeinzustand
- Mobilität
- Vorhandensein von erhöhtem Tonus
- Vorhandensein von Ataxie
- Verlaufsform
- Gangsicherheit - Gleichgewicht
Diese Faktoren gilt es, bei der Auswahl der jeweiligen Sport- bzw. Bewegungsform zu berücksichtigen. Jetzt könnte man natürlich meinen, den EDSS-Score nach KURTZKE als möglichen Parameter heranziehen zu können, um die jeweilige Sport- bzw. Bewegungsart auszuwählen, doch dieser kann lediglich als Orientierungshilfe dienen. Etwa ab einem Score von 7,5 ist die Person soweit eingeschränkt, dass an eine sportliche Bewegungsform theoretisch nicht mehr zu denken ist. Doch welches sportliche Training ist nun für einen an MS Erkrankten sinnvoll?
Grundsätzlich könnte man sagen, alles was einem gut tut - doch das ist zur Erreichung eines Zieles eine zu unspezifische Angabe und entspricht keineswegs den Ansprüchen der modernen Trainingslehre. Ein sportliches Training beinhaltet gewisse, auf die individuelle Leistungsfähigkeit abgestimmte, Gesetzmäßigkeiten, welche dann auch einen Erfolg in Aussicht stellen. Diese „Regeln" eines sportlichen Trainings sind im sog. Begriff „Belastungsnormative" zusammengefasst, und werden auf die Ressourcen jedes Einzelnen abgestimmt. Hier seien die wichtigsten erwähnt:
Häufigkeit - Wie oft darf ich trainieren?
Hier gilt nicht das Prinzip: Je öfter, desto besser. Vielmehr gilt folgende Richtlinie: Oft kurz ist besser als seltener lang! Das bedeutet, dass zum Beispiel ein Wochentrainingsumfang von 1,5 Stunden nicht auf einmal absolviert, sondern auf dreimal eine halbe Stunde aufgeteilt werden soll. Damit habe ich einerseits die Möglichkeit, Pausentage einzulegen, an denen sich der Organismus erholen kann, andererseits verliert sich der Trainingseffekt bei nur einmaligem Training bis zum nächsten Belastungsreiz.
Belastungsdauer - Wie lange darf ich trainieren?
Ein längeres Training birgt immer die Gefahr der Überforderung! Deswegen ist es, wie schon im vorigen Absatz erwähnt, besser, das Training aufzuteilen. Gerade bei der Multiplen Sklerose ist es von Vorteil, kürzere Trainingseinheiten abzuhalten, denn Dauerbeanspruchungen begünstigen Erschöpfung und damit einen Abfall der Leistungsfähigkeit.
Belastungsschwere - Wie stark darf ich mich belasten?
Die Trainingsintensität muss bei Multipler Sklerose niedrig gehalten werden, um ebenso Überforderung zu vermeiden. Hier stellt eine mittlere Belastung eine adäquate Intensität dar, welche durch das Abfragen des subjektiven Belastungsempfindens (mittels „BORG-Skala") während des Trainings leicht festgestellt werden kann.
Trainingsinhalte - Welche Bewegungsform ist für mich geeignet?
Noch vor etwa einem Jahrzehnt war die Meinung vorherrschend, dass lediglich ein kontrolliertes Gehtraining der einzige „Sport" sein darf, der bei Multipler Sklerose erlaubt ist. Mittlerweile trat, auch durch den Einzug der Sport- und Trainingswissenschaft in die Rehabilitation und speziell in die Neurologie, ein Sinneswandel ein, der aufgrund ständiger Evaluation und Bewerten verschiedener sportlicher Bewegungsformen bestätigt wurde und wird.
So konnte, durch eine Arbeitsgruppe in der Schweiz, ein kontrolliertes Ausdauertraining am Fahrradergometer durchaus als positiv für MS-Patienten bewertet werden, wobei unter anderem ein Anstieg der Vitalität und der Leistungsfähigkeit beobachtet wurde. Unserer Erfahrung nach sind kurze Trainingsintervalle von maximal 15 Minuten mit mittlerer Belastung beim Ergometertraining wie auch beim Gangbild- und -sicherheitstraining am Gehband gut verträglich.
Durch Qi Gong kommt es zu einer vermehrten Ausschüttung von Endorphinen sowie zu einer Verminderung der Stresshormone. Bei MS zeigt sich aufgrund dessen eine Verbesserung der allgemeinen Befindlichkeit, wie etwa eine Verringerung von Depressionen.
Bogenschiessen ist ebenfalls eine schonende Variante, um einerseits die Auge-Hand-Koordination sowie die Handfunktion zu verbessern, die Arm-, Schulter- und Rumpfmuskulatur zu kräftigen und die Konzentrationsfähigkeit zu erhöhen. Außerdem trägt diese Sportart als alternative Bewegungsform zur Entspannungsfähigkeit bei. Bei Ausübung von Bogenschiessen im Freien muss allerdings auf Hitzeunverträglichkeit geachtet werden, was durch einen Indoor-Schiessplatz verhindert werden kann.
Auf den Hitzefaktor ist beim Terraintraining ebenso Acht zu geben, welches ergänzend zu anderen Trainings zur Schulung der Gangsicherheit und der Gehstreckenverlängerung durchgeführt werden kann.
In der Klinik Pirawarth hat man, zusätzlich zu den erwähnten Bewegungsformen, mit Krafttraining gute Erfahrungen gemacht, wobei die Wirkung dieses Trainings bereits gründlich von der Arbeitsgruppe der Klinik erforscht wurde. 2002 wurden Studien zu Kraftausdauertraining mit einem Trainingsgewicht von 40 % der Maximalkraft bei Multipler Sklerose angestellt. Die Ergebnisse zeigten einen beachtlichen Kraftzuwachs bei einem vierwöchigen Rehabilitationsaufenthalt. In weiterer Folge wurden eine Reihe an Untersuchungen zur Ergründung und Optimierung des Trainings unternommen. Einseitige Kraftdefizite an den Extremitäten, die bei Personen mit Multipler Sklerose oft vorhanden sind, können durch ebenso einseitiges Krafttraining signifikant verringert werden. Patienten mit chronisch progredienter Verlaufsform sprechen besser auf das Training an. Früher galt die Behauptung, dass ein Krafttraining bei Vorhandensein von krankhaft erhöhtem Tonus verboten sei - heute weiß man, dass Krafttraining nicht zwingend zu einem weiteren Tonusanstieg führen muss. Grundsätzlich sollte ein Training mit geringer Intensität von 40% einem höher intensiven Training von 70% der Maximalkraft vorgezogen werden, da das intensivere Training keinerlei Vorteile bringt während es jedoch erwiesenermaßen eine höhere Gefahr an Überlastung in sich birgt. Mehr Kraft generiert höhere Mobilität, z.B. beim Gehen und Stufen steigen, und damit eine gesteigerte Lebensqualität.
Ziel sollte eine individuell auf die jeweiligen Bedürfnisse abgestimmte, im Alltag eingebundene, Sport- und Bewegungsform sein, die, über das Üben hinausgehend, regelmäßig als Training durchgeführt werden kann.
Mag. Martin Aimet
Teamleitung Sportwissenschaft